In die Seele geritzt
Line Hovens „Liebe schaut weg“

Ausstellungsdauer: 22. bis 25. Mai
Öffnungszeiten: Do 12–19, Fr/Sa 10–19, So 10–18 Uhr
Museumswinkel

Der kleine Erich träumt von einem selbst gebauten Radio. Jede freie Minute bastelt er daran, bis daraus auf einmal zunächst ein zaghaftes Knistern und bald darauf wunderbare Orchestermusik erklingt. Musik, die den kleinen Erich sofort in ihren Bann zieht. Dann sagt der Radiosprecher „This was the overture No 7 from the Jewish composer Felix Mendelssohn Bartholdy ...” Als ihn sein Freund am nächsten Tag fragt, „Na, was ist mit deinem Radio?“, antwortet er „Das ist kaputt“. Die beiden Jungs tragen die Uniform der Hitler-Jugend ...
Mit Line Hovens „Liebe schaut weg“ ist der Familienroman im Comic angekommen. Sie verdichtet Bruchstücke von Erinnerungen ihrer Familie behutsam zu einer konzentrierten Rückblende auf die eigenen Wurzeln. Die Tochter einer Amerikanerin und eines Deutschen erzählt über zwei Kontinente und drei Generationen hinweg in miteinander verwobenen Episoden, wie aus den beiden Familien ihrer Eltern ihre eigene wurde. „Liebe schaut weg“ ist eine stille und anrührende Familienchronik, in der sich private und historische Ereignisse zu spannenden Momentaufnahmen der Zeitgeschichte verbinden. Dabei setzen sich die privaten Episoden scharf vom zeitgeschichtlichen Hintergrund ab. Der Zweite Weltkrieg, seine Voraussetzungen und Folgen sind in die Lebensläufe eingeprägt. Großvater Harold möchte unbedingt in den Krieg gegen Deutschland ziehen, wird aber ausgemustert. Großvater Erich posiert in Wehrmachtsuniform. Als Titelblatt der einzelnen Kapitel hat Line Hoven jeweils ein historisches Dokument gesetzt, das stellvertretend für den Inhalt wie für die historische Entwicklung steht: Den Hitler-Jugend-Ausweis von Erich, die Quittung über den Erwerb des ersten „Waschvollautomaten“ der Großeltern, das Flugticket von Charlotte. Die Auslassung eines Dokuments jedoch markiert das eigentliche Zentrum der Erzählung: Im Fotoalbum der Großeltern fehlt das Bild, das sie erstmals zusammen zeigt, im Sommerlager der Hitler-Jugend. Nur eine Bildunterschrift verweist auf das, was fehlt. Im Schwarz zwischen den Bildern kann man die nicht unproblematische Lebensgeschichte nur noch vermuten. „Liebe schaut weg“.
Aber es ist nicht nur die einfühlsame und unaufgeregte Weise, mit der Line Hoven zu erzählen versteht, die „Liebe schaut weg“ zu einem der bemerkenswertesten Comic-Debüts der letzten Jahre macht. Es ist auch die ungewöhnliche Arbeitstechnik: Line Hoven zeichnet ihre Comics nicht, sie ritzt sie in Karton, der vorher zunächst mit Kreide und dann mit Tusche beschichtet wurde. „Schabekarton-Technik“ wird das Verfahren genannt, bei dem ein kleines Detail schon einmal mehrere Stunden, eine einzige Seite mehrere Tage dauern kann. „Nachdem ich die Zeichnung gemacht habe, weiß ich dann, okay, die nächsten soundsoviel Stunden werde ich jetzt hier sitzen und einen Teppich kratzen, ein Tapetenmuster – dann ist das einfach nur noch vor sich hin arbeiten – und das mag ich so an der Technik.“ Die Ergebnisse dieses unendlich aufwändigen Verfahrens sind jedoch atemberaubend. Wie Leuchttürme tauchen Figuren und Konturen aus dem dunklen Hintergrund auf, jedes einzelne, sorgfältig gearbeitete Detail scheint ein Eigenleben zu entwickeln. Ihre Bilder sind ruhig, beinahe statuarisch – die Linien sind das Ergebnis einer genau abgezirkelten, langsamen Bewegung des Entfernens. Ihnen fehlt das Flüchtige, sie sind überlegter, innerlicher.
Line Hoven wurde in Bonn geboren und wuchs in Ost-Westfalen in der Nähe von Detmold auf. Nach einer Bühnen- und Kostümbildassistenz am Kasseler Staatstheater, studierte sie zunächst Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel, zwei Jahre darauf wechselte sie an die Hochschule der Angewandten Wissenschaften in Hamburg, wo sie unter anderem bei Anke Feuchtenberger und Atak lernte. Mit „Liebe schaut weg“ legt Line Hoven, nach einigen Veröffentlichungen in Magazinen und Anthologien – unter anderem „Flitter“, „Orang“ und „Strapazin“ – ihren ersten eigenen Comic-Band vor, mit dem sie sofort Fachleute und Feuilleton überzeugte. So schrieb Benedikt Erenz in der Zeit: „Eine deutsch-amerikanische Liebes- und Familiengeschichte der Nachkriegszeit. In verträumtem Schwarz-Weiß mit kempowskischer List erzählt.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Mit freundlicher Unterstützung des Kunsthauses Dresden

siehe auch Max und Moritz-Preis

Museumswinkel Erlangen, 1. Obergeschoss – 22. bis 25. Mai

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