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Preisträger
Pierre Christin
Pierre Christin, geboren 1938 bei Paris, ist einer der renommiertesten und kreativsten Autoren des zeitgenössischen Comics in Europa. Christin hat an der Sorbonne und am Institut d’études politiques studiert und mit „Le fait divers: littérature du pauvre“ (Vermischtes: Literatur der Armen) seine Doktorarbeit geschrieben. Er hatte an der Universität Bordeaux gerade eine Professur angenommen und den Fachbereich Journalismus ins Leben gerufen (den er bis 2003 leitete), als Frankreich 1968 – vehementer als anderswo – den Zeitenwandel einer tiefgreifenden Liberalisierung erlebte, der vor allem in seinen frühen Alben deutlich aufscheint. Dass Christin dem Comic durch seine Arbeit immer wieder neue Impulse gegeben und dessen erzählerisches Repertoire entscheidend erweitert hat, mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass sein Interesse zunächst ganz anderen Themen galt und er eher zufällig, durch seinen Jugendfreund Jean-Claude Mézières, der zuvor bereits einige Comics gezeichnet hatte, in die Rolle des Szenaristen geriet.
Für Mézières schrieb Christin die Story um einen Raum-Zeit-Agenten, aus der schließlich – in Frankreich ein damals noch kaum verbreitetes Genre – die Science-Fiction-Reihe „Valerian und Veronique“ entstand. Als 1968 in deren erstem Band die Welt im Chaos versinkt, steht in der Wirklichkeit Paris in Flammen: Studenten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, zehn Millionen Franzosen sind in den Streik getreten und zwingen die Regierung de Gaulles zu sozialen Reformen. Christin greift die Stimmung jener Zeit mit leidenschaftlicher Parteilichkeit auf und projiziert sie – spielerisch und satirisch überspitzt – auf die bizarren Fantasiewelten, die er zusammen mit Mézières entwirft; retrospektiv lassen sich die in den 1970er-Jahren entstandenen „Valerian und Veronique“-Geschichten heute wie eine Chronik der zentralen Themen der undogmatischen Linken lesen.
Christin findet Gefallen an der Gattung, die sich in der elektrisierten Atmosphäre nach dem Pariser Mai gerade von den üblichen Serien-Standards und Klischees befreit. Zusammen mit Enki Bilal beginnt er 1975 die „Légendes d’aujourd’hui“ (Legenden von heute), in denen er mit dem Blick des Soziologen und Chronisten noch schärfer als bisher die Ereignisse der Zeit aufgreift und diese mit den Mitteln der Fantastik reflektiert. Neu ist vor allem aber auch, dass sich Christin mit den „Légendes“ konsequent vom Prinzip der Serie abwendet und jeden Band als eine eigenständige, in sich geschlossene Erzählung konzipiert – als „Graphic Novel“, hätte es den Begriff seinerzeit schon gegeben. Zum Meisterstück der Reihe wird schließlich der Band „Treibjagd“, ein bitterer Abgesang auf die Utopie des Kommunismus, 1983 schon geradezu prophetisch noch vor der deutschen Wiedervereinigung, dem Kollabieren der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts erschienen.
Zusammen mit Annie Goetzinger beginnt Christin 1979 eine zweite Reihe nach dem Vorbild der „Légendes“ unter dem Titel „Portraits souvenirs“ (erinnernde Porträts), in denen – auch das ein Novum – in jedem Band das Schicksal einer Frau im Mittelpunkt steht. Hier beschäftigt sich Christin nicht mit Politik als kollektivem Erleben, sondern lässt politische Phänomene vielmehr in den Einzelschicksalen seiner Protagonistinnen sichtbar werden. Ebenfalls zusammen mit Goetzinger entsteht 2001 die Serie „Agènce Hardy“ um eine Privatdetektivin im Paris der 1950er-Jahre.
Mittlerweile hat Christin über achtzig Comic-Alben (u. a. auch für François Boucq, Jacques Ferrandez, Jean-Claude Denis, André Juillard, Max Cabanes) geschrieben und ist damit einer der produktivsten und vielseitigsten Szenaristen in Europa. Darüber hinaus hat er für den Film und das Theater gearbeitet und sechs Romane veröffentlicht. „Valerian und Veronique“, die heute wohl einflussreichste europäische SF-Reihe, mit der vor über vierzig Jahren alles begonnen hat, hat er in diesem Jahr mit Band 21 zu einem spektakulären Abschluss gebracht.
Seit Jahren schon wird Pierre Christin auch als einer der heißesten Kandidaten für den Grand Prix in Angoulême (Festival de la Bande Dessinée) gehandelt. Traditionsgemäß – nicht einmal Asterix-Autor René Goscinny wurde dort ausgezeichnet – stehen bei diesem französischen Festival allerdings die Zeichner stärker im Mittelpunkt, als die Szenaristen. Hier nimmt die Jury des Max und Moritz-Preises bewusst eine andere Gewichtung vor: Denn wenn man den Comic als „gezeichnete Literatur“ verstehen will, was wäre er dann ohne seine Autoren?
Laudatio: Pierre Christin, geboren 1938 bei Paris, ist einer der renommiertesten und wegweisendsten Autoren des zeitgenössischen Comics in Europa. Er hat an der Sorbonne studiert und rief gerade an der Universität Bordeaux den Fachbereich Journalismus ins Leben (den er bis 2003 leitete), als er eher zufällig, durch seinen zeichnenden Jugendfreund Jean-Claude Mézières, in die Rolle des Szenaristen geriet. Gemeinsam schufen Christin und Mézières 1968 mit „Valerian und Veronique“ die erfolgreichste europäische Science-Fiction-Serie (die sie gerade nach 21 Bänden abgeschlossen haben). Für Enki Bilal schrieb Christin ab 1975 eine Reihe von mit Elementen der fantastischen Literatur arbeitenden Politthrillern (u. a. „Die Kreuzfahrt der Vergessenen“, „Schlaf der Vernunft“, „Treibjagd“), mit denen er das Erzählformat der „graphic novel“ zu einem Zeitpunkt vorwegnahm, als es den Begriff noch nicht einmal gab. Nach über 40 Jahren umfasst Christins Werk (neben sechs Romanen, Filmdrehbüchern und Theaterstücken) heute über 80 von Comic-Künstlern wie Annie Goetzinger (u. a. „Die Diva“, „Das Fräulein von der Ehrenlegion“, „Die Frau des Sultans“) oder André Juillard („Lenas Reise“) umgesetzte Alben.
Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk
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Bester deutschsprachiger Comic-Künstler
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Bester Comic-Strip
„Prototyp“ / „Archetyp“ von Ralf König (Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rowohlt Verlag)
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Bester deutschsprachiger Comic
„Alpha. Directions“ von Jens Harder (Carlsen Comics)
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Bester internationaler Comic
„Pinocchio“ von Winshluss (avant-verlag)
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Bester Comic für Kinder
„Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln“ von Nadia Budde (S. Fischer Verlag)
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Spezialpreis der Jury
Salleck Publications und Carlsen Comics für ihre Will Eisner-Ausgaben „Die Spirit Archive“ (Salleck Publications) und „Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten“ (Carlsen Comics)
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Sonderpreis für eine studentische Comic-Publikation
„Strichnin“ von der Hochschule Augsburg / Fakultät für Gestaltung
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Publikumspreis
„Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ von Ulli Lust (avant-verlag / electrocomics)
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Nominierungen für den Max und Moritz-Preis 2010
„Alpha. Directions“ von Jens Harder (Carlsen Comics)
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„Bäche und Flüsse“ von Pascal Rabaté (Reprodukt)
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„Drei Schatten“ von Cyril Pedrosa (Reprodukt)
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„Ein neues Land“ von Shaun Tan (Carlsen Comics)
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„Engelmann. Der gefallene Engel“ von Nicolas Mahler (Carlsen Comics)
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„Freche Mädchen – freche Manga. Handykuss und Liebesrätsel“ von Bianka Minte-König und Inga Steinmetz (Tokyopop)
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„Gift“ von Peer Meter und Barbara Yelin (Reprodukt)
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„Hector Umbra” von Uli Oesterle (Carlsen Comics / Edition 52)
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„Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ von Ulli Lust (avant-verlag / electrocomics)
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„Ikkyu“ von Hisashi Sakaguchi (Carlsen Manga)
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„Kirihito“ von Osamu Tezuka (Carlsen Manga)
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„Liō“ von Mark Tatulli (Bulls Press)
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„Louis am Strand“ von Guy Delisle (Reprodukt)
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„Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen“ von Jean Regnaud und Émile Bravo (Carlsen Comics)
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„Orange“ von Benjamin (Tokyopop)
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„Pinocchio“ von Winshluss (avant-verlag)
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„Prototyp“ / „Archetyp“ von Ralf König (Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rowohlt Verlag)
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„Spirou & Fantasio Spezial. Porträt eines Helden als junger Tor“ von Émile Bravo (Carlsen Comics)
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„Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in zehn Kapiteln“ von Nadia Budde (S. Fischer Verlag)
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„Das variable Kalendarium“ von Kat Menschik (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
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